Heu, Schnee und Ende

Ein Kopfhörstück für Ilse Aichinger & Helga Michie

Notizen

Wien.

Augarten.


Juni 2021, zwischen Lockdowns, soviel ahnen wir -

aber der Wind zwischen den Flaktürmen und die Raben in den Ästen der Kastanienbäume nehmen sich solcher Ahnungen rasch an.


So bleibt uns ein Sommer.


Wir sitzen im Gras.

Im Kreis, der als seine Mitte das eine Rätsel eingepflockt hat, dem wir uns stundenlang widmen. Einem Satz, um den sprechend zu drehen uns die einzige Lösung bleibt, unter Raben und Wind.


Es gibt nicht viele, die nicht bezeichnen,

womit sie eins sind, weil sie es nicht bezeichnen.

Aus: Schnee von Ilse Aichinger.


Welche Rotation verleiht dem Scheitern sein erträgliches Spiegelbild?


Thoughts circular and of stone

(Helga Michie,  Vienna)


Our intense human desire to avoid ambiguity, to pinpoint the true and to discard the false, to separate the wheat from the chaff, tends to make us seek and believe in very sharp answers to questions that have none, schreibt Douglas R. Hofstadter.
















Von Robert Schumann wird erzählt, er habe am Ende eines Konzertes auf die Frage aus dem Publikum, was dieses Stück denn bedeuten solle, sich erneut ans Klavier gesetzt, um seine Komposition ein weiteres Mal zu spielen.


Wheat and chaff.


Ilse Aichinger antwortet vor nahezu einem halben Jahrhundert auf eine ähnliche Frage in ihrem Brief an eine Schulklasse: Jeder Leser kann nun diese Geschichte (aber nicht nur diese und nicht nur meine Geschichten) anders auslegen und sie in seine eigene Landschaft und seine eigenen Fragen übersetzen.


Im selben Jahr 1976 formuliert sie mit größerem Nachdruck in Schlechte Wörter:

Niemand kann von mir verlangen, dass ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind.


But how did time come in?

fragt Helga Michie weiter.


Nikolaustag.


Der Zwerg blättert in der Zeitung.

Eine  Bildunterschrift:

Das Magnetfeld der Erde ist alles andere als konstant.

Im Schnitt alle 200.000 Jahre kommt es sogar zu einer Polumkehr,

die nun längst überfällig ist.


Time is a crook, stellt Peter Lorre´s Julius O´Hara in Beat the Devil klar.


Der Zwerg blickt - streng - aus dem Fenster, murmelnd:

Dann ergibt das alles viel mehr Sinn!


Inzwischen sind die Aufnahmen zu einer Folge von Gesprochenem verwoben.

Die Warnung, wie sie Thomas Bernhard formuliert hat, tickt als Metronom:


In meiner Arbeit, wenn sich irgendwo Anzeichen einer Geschichte bilden,

oder wenn ich nur in der Ferne irgendwo hinter einem Prosahügel

die Andeutung einer Geschichte auftauchen sehe, schieß´ ich sie ab.


Und die Sprache?


Sie starrt nur und horcht auf die Brandung, meine Sprache.

Wir sind immer in Meeresnähe, dafür sorge ich.


Ilse Aichinger:

Meine Sprache und ich.



Wien, XII.2021

Mycorrhizal network aus: D.J.Read &  S.E. Smith, Mycorrhizal Symbiosis, 1997

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